Früher war alles besser, auch die Jugend
Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ Das habe ich nicht vor kurzem in einem Gespräch gehört. Das sind die Worte in Keilschrift auf einer Tontafel, die 4000 Jahre alt ist.
Seit 1980 bin ich in Schulen als Lehrer tätig. Meine Ausbildung erhielt ich als Lehramtsanwärter an der August-Hermann-Francke-Schule, Innenstadt. Die gibt‘s heute nicht mehr. Und ich freue mich, dass ich die letzten aktiven Jahre wieder in Lübeck erleben darf, an der Gotthard-Kühl- Grund- und Gemeinschaftsschule. Damit schließt sich ein Kreis.
38 Jahre, mehr als eine Generation lang, habe ich – gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen – Kinder und Jugendliche gebildet und erzogen. Nicht immer war alles erfolgreich. Ich kenne Situationen wie diese: Ein Kollege seufzt: „Also, ich weiß auch nicht mehr, was ich mit deiner 5a machen soll.“ Oder: Eine Kollegin stürmt in der Pause ironisch auf mich zu: „Dein Felix war ja heute mal wieder so richtig gut gelaunt!“
Dennoch: Hat sich denn alles in diesen Jahren verschlechtert? So will ich das nicht sagen. Immer noch, damals wie heute, kommen Kinder und Jugendliche zum größten Teil fröhlich und guter Dinge in die Schule. Hier können sie viel erleben, hier sind sie mit Gleichaltrigen zusammen, hier sammeln sie soziale Erfahrungen, die für ihr Leben bestimmend sind. Sie freuen sich auf Ferien oder auch über eine unvorhergesehen ausgefallene Stunde. Sie staunen und sind wissbegierig, wenn Unterricht spannend ist, wenn er vermittelt, dass die Inhalte auch später bedeutsam sein können. Häufig stehe ich mit Jugendlichen aus 8. und 9. Klassen vor dem Hauptbahnhof. Die drei Fahnen sind ihnen noch gar nicht aufgefallen. Als sie herausfinden, dass dies das Erinnerungszeichen für die deportierten Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus ist, sind die Reaktionen immer wieder: „So etwas darf nicht mehr geschehen. Wir wollen Ausgrenzung von Menschen entgegentreten.“
Es mag sein, dass Fertigkeiten in der Rechtschreibung oder im Kopfrechnen innerhalb „meiner“ Jahre schlechter geworden sind. Hier muss Schule selbstkritisch ihr Handeln überdenken. Dafür haben Kinder und Jugendliche Kompetenzen, die ihre Eltern nicht besaßen. Geschickt gehen sie mit neuen Medien um. Ich habe den Eindruck, dass die Arbeit in Teams häufig erfolgreich ist. Als ich mit meiner Unterrichtstätigkeit anfing, hörte ich dagegen oft: „Machen Sie bloß keine Gruppenarbeit!“ In den Abschlussprüfungen muss heutzutage eine Fragestellung nach wissenschaftlichen Arbeitsschritten untersucht und als Gruppenpräsentation vorgestellt werden. Diese Anforderungen hatten frühere Abschlussjahrgänge nicht zu bewältigen. Vor einigen Wochen erlebte ich an unserer Schule wieder ausgezeichnete Präsentationen, die mit viel Mühe über eine längere Zeit erarbeitet worden waren. Themen waren z.B. Obdachlosigkeit, die Rolle des indischen Films oder neue Techniken der Aquariumgestaltung.
Freundlichkeit oder Wertschätzung sind damals wie heute allgemein akzeptierte Werte. Kinder der Grundschule wissen, dass das Zauberwort „bitte“ immer noch viele Türen und Herzen öffnet. Schließlich sehe ich über die Jahre eine weitere, sehr positive Entwicklung: Heranwachsende sind wieder mehr bereit, sich in gesellschaftliche Fragen einzumischen und Verantwortung zu übernehmen. Das beweist die aktive Mitarbeit in der SchülerInnen-Vertretung oder die Bereitschaft, in einem begrenzten Zeitraum ehrenamtliche, soziale Arbeiten zu übernehmen. Es haben sich die Erscheinungsformen für Engagement verändert; es ist nicht mehr „in“, sich über einen langen Zeitraum zu binden. Begrenzte Projekte werden bevorzugt. Aber die Bereitschaft, über den eigenen Ich-Tellerrand hinwegzusehen, macht Mut. Ich habe von diesen Entwicklungen sehr profitiert. Häufig war ich selbst Lernender. Ich weiß, dass der Umgang mit Schülerinnen und Schülern mich einigermaßen jung gehalten hat.
Hoffnungsvoll stimmt, dass heute die vielen Aufgaben und die Belastungen von Lehrkräften wieder zunehmend anerkannt werden. Unselige Äußerungen aus der Politik sind vom Tisch. Viele Dinge in und um Schule haben sich verändert, etwa das Schulsystem oder die Herausforderungen, mit Verschiedenheit umzugehen.
Leider haben sich viele Bedingungen aber nicht verändert. Immer noch geben wir in Deutschland zu wenig Geld – im internationalen Vergleich gesehen – für Bildung aus. Es fehlt an Ganztagsbildung. Der Abstand zwischen arm und reich ist in den letzten Jahren immer größer geworden und Kinderarmut hat zugenommen. Immer noch hängt der Schulerfolg zu einem entscheidenden Teil davon ab, in welchen elterlichen Einkommensverhältnissen ein Kind groß wird. Es ist sehr zu wünschen, dass es nicht noch eine Generation braucht, um diese skandalösen Zustände zu ändern. Die Vorstellung, die Jugend werde immer schlechter, hält sich als Vorurteil seit Jahrtausenden. Schule und Gesellschaft zum Besseren weiterzuentwickeln, ist eine Aufgabe für das Jetzt und Morgen. Unsere Kinder haben es verdient!
Autor
Matthias Isecke-Vogelsang
geb. am 8. Nov. 1952 in Chemnitz / Sachsen,
Schulleiter der Gotthard- Kühl-Schule Lübeck,
verheiratet, drei Kinder, ein Enkelkind