Hormonwirksame Substanzen in der Umwelt
Ein Grund zur Sorge?
Vor fast 80 Jahren wurde erstmals beobachtet, dass von Außen zugeführte Substanzen Hormonsysteme stören können. Damals hatten Schafe in Australien große Mengen einer Kleeart (bodenfrüchtiger Klee, trifolium subterraneum) gefressen und dies führte zu erheblichen Problemen bei der Geschlechtsentwicklung, Pubertät und Fruchtbarkeit der Tiere. Wenig später beobachtete Rachel Carson, eine charismatische Meeresbiologin in den USA, dass auch chemische Substanzen Hormonsysteme stören können und dass diese Stoffe sich teilweise in der Nahrungskette anreichern. Wissenschaftler begannen, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Solche Substanzen, die nicht vom Körper selbst gebildet werden, aber das Hormonsystem von Mensch und/oder Tier stören, nennt man „Endokrine Disruptoren“, abgekürzt EDC (endocrine disrupting chemical). Die genaue Definition der WHO lautet: „Ein endokriner Disruptor ist eine von Außen einwirkende Substanz, die die Funktion endokriner Systeme verändert und dadurch gesundheitsschädlich auf ein Lebewesen, dessen Nachkommen oder einer Untergruppe dieser Lebewesen wirkt “
Jedes Hormon – bei uns und im Tierreich – hat „seinen“ Rezeptor, über das es wirkt. Man kann sich das ein wenig vorstellen, wie Schlüssel und Schloss. Ein EDC kann dabei die Wirkung des Hormons an diesem „Schloss“ imitieren, d.h. wirken, ohne, dass das Hormon da ist, die Wirkung des Hormons behindern und dadurch abschwächen oder auch ganz verhindern.
In Europa sind 85.000 Chemikalien gelistet, von denen mindestens 1000 nachweislich Hormonsysteme stören. Von den Störungen sind alle bekannten Hormonsysteme betroffen: Schilddrüsenhormone, Geschlechtshormone, Nebennierenhormone, um nur drei Beispiele zu nennen. Es sind alle Lebensalter betroffen, wobei ungeborene Kinder, Säuglinge, Kleinkinder und Kinder in der Pubertät besonders empfindlich sind für Störungen des Hormonsystems. Einige durch EDC verursachte Veränderungen können sogar weitervererbt werden.
Erkrankungen, die in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben und die mit der Wirkung von EDC in Zusammenhang gebracht werden, sind: Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität (ADHS), Hodenhochstand, Fettleibigkeit (Adipositas), Diabetes, Störungen der Fruchtbarkeit, Brust- und Prostatakrebs … die Liste ist noch viel länger.
Das Problem und das damit verbundene Risiko ist keineswegs auf Europa begrenzt, nicht einmal auf die hoch entwickelten Staaten dieser Erde, es ist ein globales Problem. In Fachkreisen wird davon ausgegangen, dass EDCs die zweitgrößte Bedrohung nach der Klimaerwärmung darstellen. Angesichts dieses Risikos würde man annehmen, dass dies die Politik auf den Plan ruft – und das tut es auch!
Die EU hat 2011 einen Bericht in Auftrag gegeben, der die Situation erfassen soll (Kortenkamp et al. 2011) und 2014 eine Arbeitsgruppe erarbeiten lassen, welche Auswirkungen auf unsere Gesundheit damit verbunden sind (HEAL Report 2014). Das Ergebnis ist beunruhigend. Hieraus werden auch Konsequenzen gezogen, auch schon vor Erstellen des Berichts, jedoch nur sehr allmählich. Zu viele Interessen stehen hier im Konflikt zueinander.
Was bereits bewirkt wurde: Ein Nutzungsverbot für DDT (was aber in der Umwelt persistiert) in Deutschland seit 1977 (spät im internationalen Vergleich). BPA (Bisphenol A) ist bei uns seit 2011 für Säuglingsmilchflaschen und Schnuller verboten, in Belgien, Dänemark und Schweden ist BPA in Nahrungsmittelverpackungen generell verboten. In der EU gilt ein Verbot von PVC mit Phthalaten als Weichmacher in Kinderspielzeug seit 1999, 2009 wurde das Verbot auf weitere EDCs ausgeweitet.
Frankreich drängt auf ein EU-weites Verbot von BPA in Thermodruckerpapier (Kassenbons) – vielleicht ist Ihnen ja auch schon aufgefallen, dass die Kassiererinnen vieler Supermärkte inzwischen fragen, ob man den Bon überhaupt haben möchte!
EDCs stellen einen maßgeblichen Anteil unseres sog. „Exposoms“ dar, d.h. der Substanzen, die im Laufe eines Lebens von Außen auf uns einwirken und es ist fraglos unmöglich, sie alle zu vermeiden, zumindest nicht, ohne einen erheblichen Verlust an Lebensqualität.
Dennoch ist es, bis die Politik ausreichend Schutzmaßnahmen für unsere Kinder, aber auch uns selbst ergreift, gar nicht so schwer, durch Berücksichtigung einiger weniger Punkte die Exposition gegenüber häufig vorkommenden EDCs wirksam zu senken. Dies konnte in Studien in den USA (Vabre et al. 2011) sehr schön gezeigt werden.
BPA (Bisphenyl A)
findet sich in Lebensmittel- und Getränkedosen, Belegen auf Thermodruckerpapier (Kassenbons) und Artikeln aus Polycarbonat (Recyclingcode 7)
Konsequenz:
Verzicht auf Konserven und Dosengetränke. Dies allein kann die BPA-Belastung um >66% senken. Keine Verwendung von Polycarbonatbehältern für Lebensmittel! Verzicht auf den Kassenbon, wenn wir ihn nicht dringend brauchen – und: Ein Kassenbon ist kein Spielmaterial für die Kleinen!
Phthalate
finden sich in Artikeln/Verpackungen/Behältern aus PVC (Polyvinylchlorid)
Konsequenz:
Kein Kinderspielzeug aus PVC, keine PVC-Behälter für Nahrungsmittel, Einmalverpackungen aus PVC meiden. Einmalverpackungen nur einmal verwenden. Die Fastfoodbelastung ist ebenfalls hoch, wobei die Substanz nicht aus dem Essen selbst kommt, sondern auch da aus der Verpackung. Grundsätzlich kein Plastik in der Mikrowelle erhitzen oder im Geschirrspüler reinigen. Beides raut die Oberfläche auf und begünstigt damit die Freisetzung von Phthalaten in die Nahrung. Aus dem gleichen Grund sollten verkratzte Behälter entsorgt werden. Bei Pflegeprodukten darauf achten, dass diese phthalatfrei (parabenfrei, triclosanfrei, benzophenonfrei) sind.
Polybromierte
Substanzen/Flammschutzmittel: Diese finden sich in der Rückseite von Teppichböden, in Vorhängen und in Polstern. In die Nahrung geraten diese Substanzen über Stäube.
Konsequenz: Defekte Polster entsorgen, mit HEPA Filter staubsaugen, den Wohnbereich regelmäßig und gut lüften. Kinder daran hindern, flammschutzmittelbehandelte Dinge in den Mund zu stecken. Wenn bei Renovierung z.B. Teppiche entfernt werden, sollten Schwangere, Säuglinge und Kinder die Wohnung zwei bis drei Tage meiden, bis die Luft wieder rein ist.
Phytohormone
(hormonwirksame Substanzen aus Pflanzen), sind u.a. in Soja, Sojaprodukten, Lavendel und anderen ätherischen Ölen (Eukalyptus, Minzen, Zimt und viele andere) enthalten.
Konsequenz: Soja als Eiweißquelle nur bei zwingender medizinischer Indikation verwenden. Ätherische Öle in der Schwangerschaft, bei Säuglingen und Kleinkindern komplett vermeiden.
Acrylamide
entstehen, wenn stärkehaltige Nahrungsmittel stark erhitzt werden. Ich gebe es unumwunden zu, Pommes Frites sind einfach unglaublich lecker. Dennoch sollte zur Vermeidung einer zu hohen Acrylamidbelastung scharf Gebratenes und Frittiertes auf dem Speiseplan von Schwangeren wie auch Kindern die Ausnahme sein.
Perfluorierte Substanzen (PTFE, PFOA)
finden sich z.B. in Antihaftbeschichtung (Teflon®) von Kochgeschirren und schmutzabweisenden Geweben (Tischdecken, Polstern).
Konsequenz:
Statt PTFE- oder PFOA-beschichteter Töpfe und Pfannen solche mit Keramikbeschichtungen wählen.
Organische Quecksilberverbindungen
finden sich vor allem in Fisch und Meeresfrüchten. Sie gelangen in die Nahrung durch Abwässer, vor allem aber durch den Außenanstrich von Schiffen, die zur Vermeidung von Bewuchs am Schiffsrumpf mit diesen Substanzen versetzt sind. Der Abrieb des Anstrichs wird von den Meeresorganismen aufgenommen und gelangt so in den Fisch, den wir auf dem Teller haben. Das Ausmaß der Belastung hängt dabei vom Fangort ebenso ab, wie von der Fischart selbst. Als besonders belastet gelten Makrele, Schwertfisch, Ziegelbarsch und Hai. Unterschiedlich belastet, aber nicht so stark waren bisher Barsch, Thunfisch und Forelle. Als wenig belastet gelten Heilbutt, Wels und Wildlachs.
Konsequenz:
wenig belastete Arten bevorzugen, gelegentlich über die aktuelle Belastung informieren, z.B. unter http://www.perinatology.com/exposures/Maternal/seafood.html
Pflanzenschutzmittel
finden sich in Obst, Gemüse, Getreide. Die Belastung der einzelnen Lebensmittel wird überwacht und das Ergebnis kann nachgelesen werden unter https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/01_Lebensmittel/02_UnerwuenschteStoffeOrganismen/01_PSMRueckstaendeLM/psm_PSMRueckstaendeLM_node.html. Hier ergibt sich nur das Problem, dass die Daten immer deutlich rückwirkend veröffentlich werden: Im Januar 2020 erwarten wir die Zahlen für 2018. Daher sind diese Daten zwar interessant, für die tägliche Ernährung jedoch unbrauchbar. Das gleiche gilt für die Identifikation des „dirty dozen“ – die zwölf am höchsten belasteten konventionell angebauten Lebensmittel. Auch dieser unrühmliche Titel kürt nur im Nachhinein.
Konsequenz:
Wo immer möglich, Biogemüse aus kontrolliertem Anbau für Schwangere, Säuglinge, Kinder und Jugendliche.
Fazit
- Ja, hormonwirksame Substanzen in der Nahrung sind ein Grund zur Sorge
- Endokrine Disruption betrifft alle Hormonregelkreise und alle Lebensalter
- EDC mit vielen weit verbreiteten und zunehmenden Störungen werden in Zusammenhang gebracht
- Die resultierenden Kosten für das Gesundheitssystem sind erheblich
- Staatliche Stellen nehmen Notiz von dieser Bedrohung
- Maßnahmen werden aber nur langsam ergriffen
Aber: Durch einige wenige Maßnahmen können wir die Belastung durch EDC für unsere Kinder, aber auch für uns selbst!, signifikant senken und damit Gesundheit und Lebensqualität langfristig verbessern
Und für die, die zu diesem Thema noch mehr wissen wollen, empfehle ich das sachliche und toll geschriebene Buch des Kinderarztes und Umweltmediziners Leonardo Trasande (ISBN-10: 1328553493), auf dessen Übersetzung ins Deutsche wir dringend warten.
Autorin: Dr. Esther M. Nitsche