Wenn Familien neu zusammenfinden

Patchwork-Familien – Chaos im Familienalltag als Herausforderung und Chance zugleich

Wenn Eltern sich nach einer Trennung mit einem neuen Partner oder Partnerin zusammenschließen entsteht eine grundlegend neue Familienkonstellation, die „Patchwork-Familie. Neben der klassischen Kernfamilie „Vater-Mutter-Kind“ und alleinerziehenden Familien ist die Stieffamilie (von ahd. „stiof-“ = „hinterblieben“ oder „verwaist“) bzw. auch als „gemischte“ oder „Patchwork-Familie“ bezeichnet, die drittgrößte Gruppe von Familientypen in Deutschland: ca. 7% der Familien mit Kindern unter 18 Jahren gehört zu dieser Familiengruppe. Eine Patchwork-Familie wird im traditionellen Sprachgebrauch so beschrieben, dass mindestens ein Elternteil ein Kind aus einer früheren Beziehung in die neue Familie mit einbringt.

Was ist nun die größte Herausforderung für diese Familienform, wenn sich Eltern in dieser neuen Struktur neu „trauen“?

Zunächst müssen sich die Partner auf gemeinsame Erziehungsregeln einigen, die von allen Beteiligten aus bislang unterschiedlichen Herkunftsfamilien akzeptiert werden. Gebräuche, Regeln und Traditionen – wie feiern wir Weihnachten, wie wird ein Geburtstag gestaltet, wer entscheidet was mit etc. – sind noch weitgehend auf die Kernfamilie ausgerichtet, die durch die vorangegangene Ehe und die ursprüngliche Abstammung gekennzeichnet ist.
Für die gemischte Familie kann es zu zusätzlichen rechtlichen und sozialen Herausforderungen kommen, z. B. im Bereich des Adoptions- und Sorgerechts, sowie des Umgangsrechts für außerhalb der Familie lebende Elternteile. Im Alltag der neuen Familie beschäftigt also die Frage nach rechtlichen Zuständigkeiten, wenn die neue Partnerin oder der neuePartner in der Schule oder bei der KinderärztIn, Verantwortung für das jeweils nicht eigene Kind übernehmen will oder soll – alles muss neu geregelt werden.
Auch hinsichtlich der Namensregelungen und des gesellschaftlichen Ansehens der Familie und der Familienmitglieder wird es Neues geben: Es heißen nicht alle gleich und gehören doch zur gleichen Familie. Nicht in allen Bereichen unserer Gesellschaft, trotz aller positiven Veränderungen der letzten Jahre, sind neu zusammengesetzte Familien sozial vollständig anerkannt.

Was macht nun Patchwork-Familien in ihrer Vielfalt aus?

Hier finden sich verschiedene Typen dieser Familienform: neben Familien, die sich finden, bspw. um einem unehelichen Kind „einen Vater zu geben“ gibt es Stieffamilien, die nach dem Tod eines Elternteils bzw. nach Scheidung/Trennung neue Familienbindungen eingehen. Entweder aus Liebe und Zuneigung oder auch aus eher sachlichen Überlegungen heraus, wenn bspw. eine „ErnährerIn“ oder neue Mütter oder Väter gesucht werden.
Genauso vielfältig wie die Form der Patchwork-Familie ist auch ihre Lebenssituation. Je nach dem Ort des Lebensmittelpunktes beschreibt die Familiensoziologie mononukleare („ein Kern“) Familien, bei denen alle Familienmitglieder ihren Lebensmittelpunkt an einem Ort haben. Dem entspricht beispielsweise eine Stieffamilie in der alten Form, bei der nach dem Tod eines Elternteils diese familiäre Lücke durch Wiederheirat geschlossen wird.
In bi- oder multinuklearen Familien leben die Mitglieder des Familiensystems in zwei (oder mehr) getrennten Haushalten. Dies kann beispielsweise eine Scheidungsfamilie sein, bei der die beiden Elternteile noch keine neue Partnerschaft eingegangen sind. Aber auch eine Stieffamilie, bei der einer oder beide Elternteile neue Partner gefunden haben, erfüllt diese Definition. Gerade für Kinder bedeutet diese Situation des Wechsels zwischen zwei Lebensmittelpunkten zumeist eine große Herausforderung.
Eine multinukleare Familienstruktur liegt auch vor, wenn das Kind (oder die Kinder) nach der Scheidung nicht bei den Eltern, sondern in einer Pflegefamilie leben. Dann existieren drei familiäre Zentren mit drei vollständigen Elternpaaren (Mutter + Stiefvater, Vater + Stiefmutter und Pflegemutter + Pflegevater) und einer entsprechend komplexen und schwierigen bzw. anfälligen familialen Organisationsstruktur.

Patchwork-Familien sind anders.

Das Geflecht aus Beziehungen, die sich neu zusammensetzen und den „wirklichen“, schon bestehenden Beziehungen zueinander, muss sich erst langsam entwickeln. Zentrale Achse ist dabei die neue Paarbeziehung und daneben deren Kinder und dann auch noch viele andere Personen, die ihre Beziehungen zueinander neu gestalten müssen. Anders als in sogenannten „Ursprungsfamilien“ sind diese Beziehungen nicht langsam und stetig gewachsen, sondern schlagartig entstanden und müssen sich dennoch erst finden. Dazu braucht es Zeit und viel Verständnis seitens aller Beteiligten.
Es gibt zunächst keine Selbstverständlichkeiten: Der Umgang miteinander sowie die Verteilung von Aufgaben und die Gestaltung der Zeit müssen neu geformt und geregelt werden. Es geht darum, Kompromisse zu finden, die den einzelnen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen der Beteiligten möglichst gerecht werden.
Kinder wünschen sich weiterhin eine gute Beziehung zu ihren leiblichen Eltern – zu beiden Elternteilen. Die Rolle der Eltern ist somit schon besetzt und dies sollte respektiert werden. Stiefelternteile kommen neu hinzu und bauen mit den Kindern eine ganz eigene und individuelle Beziehung auf. Im Idealfall machen Kinder die Erfahrung, dass sie ihre leiblichen Eltern behalten und ebenfalls eine gute Beziehung zu dem Stiefelternteil aufbauen können.

Mehr Großeltern, Onkel und Tanten

Neben den vier Großeltern der beiden eigenen Eltern werden nunmehr acht, bei mehreren Trennungen, bei denen Kontakte zu den vorigen Familien erhalten bleiben, werden es leicht noch mehr Personen. Somit erklärt sich, warum gerade die Weihnachtszeit mit ihren großen familiär geprägten Bedürfnissen und Gefühlserwartungen für Patchwork-Familien eine große und besondere Herausforderung darstellt: „Fahren wir mit unseren Kindern zu Deinen oder zu meinen Eltern oder zu den Eltern Deiner Exfrau oder meines Exmannes?“ – eine wirklich oft nicht leicht lösbare Aufgabe.

Das Leben in einer Patchwork-Familie benötigt eigene, neue Rituale

Dies ist wichtig, damit alle Familienmitglieder eine Orientierung haben und wissen, woran sie sich halten sollen. Wer hat welche Aufgaben, wie funktioniert bei uns der Haushalt, wie verbringen wir unsere Freizeit und wer erzieht wessen Kinder? Gerade diese wichtige Frage muss vorrangig zwischen den neuen PartnerInnen geklärt werden: Ist Erziehung Sache des ursprünglichen Elternteils und/oder darf bzw. soll der oder die „Neue“ hier Aufgaben übernehmen? In jedem Falle gilt: Unabhängig von eigentlichen erzieherischen Zielen muss und darf jedes neue Mitglied einer Familie seinen bzw. ihren Umgang im neuen Umfeld für sich regeln. So ist bspw. eine konflikthafte Zuspitzung zwischen zumeist Jugendlichen und den neuen PartnerInnen oft eine Frage jenseits vom erzieherischem Auftrag. Werde ich als neuer Partner oder Partnerin durch den oder die Jugendliche „angeschossen“, kann und muss ich mich positionieren. Dies ist Gestaltung der eigenen Beziehung zum „Stiefkind“ und nicht primäre Erziehungsaufgabe.


Erleichternd für alle Beteiligten ist bei aller Vielfalt und Unübersichtlichkeit im neuen Familiengefüge eine unbedingte Tatsache: Die Eltern und Großeltern der jeweils leiblichen Kinder bleiben dies in der Regel, sie werden durch „neue“ Partner und Großeltern nicht ersetzt und abqualifiziert oder verunglimpft. Denn die wichtigste Botschaft in neuen Familien, nach einer Trennung oder in der Patchwork-Situation an die beteiligten Kinder lautet immer noch: „Wir haben Euch lieb und sind immer für Euch da – nicht mehr als Paar, aber als Eure Eltern und ihr habt mit unserer Entscheidung, nicht mehr zusammenleben zu wollen, nichts zu tun“.
Dies eingedenk und angesichts der Chance, in der neuen Konstellation auch viele neue und stabile Beziehungen kennenlernen und gestalten zu können: Patchwork ist eine Chance zu Neuem und – nach einiger Zeit auch einfach das – neue – normale Leben.

Joachim Karschny, Diplom-Psychologe, Psychotherapeut
Geschäftsführer von KinderWege gGmbH

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